Freitag, September 29, 2006

Swiss Punk



1976 ging nicht nur in London der Punk ab: Von der Themsestadt aus schwappte die Bürgerschreck-Bewegung auch nach Zürich, wo sie von den Hipstern und einer Handvoll unangepasster Jugendlicher freudig willkommen geheissen wurde.

«No Future» lautete das Motto, doch wer seine Freizeit nicht gänzlich untätig verbringen wollte, musste zwangsläufig Utopien entwickeln. Der Kulturbetrieb in der Limmatstadt gab sich damals noch zugeknöpft, und so wich die Szene rotzfrech in andere Lokalitäten aus. Fündig wurde man beim Bellevue, wo im Hey-Club bald erste Punkkonzerte, Pogo-Abende und Performances stattfanden.

Der Fotograf und Grafiker René Uhlmann erzählt in «Punk Cocktail» von jener ersten Punk-Generation. In verhuschter Super-8-Ästhetik zeichnet der Film die Entwicklung der Szene von 1976 bis 1980 nach. Eine Entwicklung, die von den dilettantischen Sponti-Konzerten der Anfangszeit bis hin zu den Auftritten der famosen Liliput reicht. Die Aufnahmen sind zumeist in lichtarmer Umgebung entstanden; mit präzisem Schnitt und einer gezielt verlangsamten Projektion münzt Uhlmann dies zu seinem Vorteil um. Tatsächlich wirkt das zum Teil dreissig Jahre alte Bildmaterial wieder erstaunlich frisch. Mit den MTV-Videoclips heutiger Punkrock-Epigonen können es die 55 Minuten jedenfalls locker aufnehmen.

Vieles scheint sich in «Punk Cocktail» also um Musik zu drehen. Doch gärte kurz vor den Zürcher Jugendunruhen nicht auch anderes? «Für diese erste Generation sucht man vergeblich nach einer politikbezogenen Motivation», schreiben die Macher von «Hot Love». Der über 300-seitige Schmöker leistet als Buch, was «Punk Cocktail» als Film bietet: einen verlässlichen Überblick auf ein Stück Schweizer Kulturgeschichte. Wobei «Hot Love» auch noch die Westschweiz einbezieht und insbesondere die Genfer Punk- und New-Wave-Szene beleuchtet.
Zu sehen ist in dem Bildband allerhand: Konzertplakate und Plattencovers von Peter Fischli, Comics und Fanzines von Paul Ott oder Bob Fischer, Fotografien von Livio Piatti und Mode von Stefi Talman. Daneben erfährt der Leser in Texten und in Interviews, dass auch Dieter Meier, Kurt Maloo und Stephan Eicher früher Punks waren - von Bands wie Sperma, TNT oder The Bucks hätte er sich das hingegen denken können.

Der Just-for-fun-Geist, der da mit Kunst und Krach beschworen wird, steht im Widerspruch zur gängigen Meinung, die Schweizer Punkszene hätte der 80er-Bewegung Vorschub geleistet. «Mit der Politisierung kam das Ende für die Punks», ist sich Rudolph Dietrich rückblickend sicher. Der heute 51-Jährige war als Programmgestalter und DJ im «Hey» von der erste Stunde an mit dabei. 1976 gründete er die legendären Nasal Boys. Die Single «Hot Love» gilt als erste Schweizer Punk-Platte überhaupt. Der Wechsel zu der Plattenfirma CBS sowie die damit einhergehende Unbenennung in Expo markierte 1979 das Ende der Band. Dietrich rief Kleenex ins Leben, danach das Projekt «Kraft durch Freude», dann Mutterfreuden und schliesslich Blue China, die mit dem Video zu «Visitors Never Come Alone» ein weiteres Stück Schweizer Musikgeschichte schrieben. Dass sich Rudolph Dietrich mit Blue China vollends dem dunklen, mit viel Symbolik hantierenden New Wave zugewandt zu haben schien, ist bezeichnend für die Szene.

Wer sich in den Achtzigern nicht zum Düsterling verwandelte, ging in die Werbung oder liess sich in Amerika zum Tonmeister ausbilden. Dietrich hingegen überraschte Mitte der Neunzigerjahre die Kritiker mit einem feinen Country-Blues-Album. «Für mich ist Musik eine Brücke von Herz zu Herz, von Mensch zu Mensch. Musik ist Kommunikation.»
Das gilt für ihn auch heute noch. Das liebevoll gestaltete Booklet zu seiner neuen CD erlaubt eine Reise zurück in die Anfänge der Schweizer Punkmusik. Von dem rohen Punkrock der Nasal Boys bis hin zu den übereinander geschichteten Songstrukturen späterer Jahre: Das alles darf man historisch interessant finden - oder einfach nur als erstaunlich aktuell klingende Musik geniessen. Punk rockt eben immer noch.

Rudolph «Hillary» Dietrich. Sheer Hilariousness. Muve/MV. Erscheint am 6. Oktober.
«Punk Cocktail - Zurich Scene 1976-1980». Ab 13. Oktober im Kino Riffraff, Zürich.
Lurker Grand (Hg.): Hot Love - Swiss Punk and Wave 1976-1980. Edition Patrick Frey. 324 S., Fr. 68.-. Erscheint am 6. November.


«Es sind die gleichen Mauern»

Hillary Dietrich, da kommt diesen Herbst Punk-technisch eine ganze Menge auf uns zu. Und Sie bescheren uns gleich ein Doppelalbum . . .

Rudolph «Hillary» Dietrich: Ja, stimmt (lacht), aber bei den Vorbereitungen bin ich auf immer mehr gutes Material gestossen. Ich sagte mir: Das darfst du den Leuten nicht vorenthalten. Zumal das Album thematisch unterteilt ist. Die erste CD soll einfach pure Freude bereiten. Die zweite hat eher dokumentarischen Charakter im Sinne einer Anthologie.

Die jungen Leute interessieren sich wieder vermehrt für Punk. Sehen Sie Parallelen zwischen damals und heute?

Dietrich: Ja, die sehe ich tatsächlich. Es sind die gleichen Mauern, die um uns aufgebaut werden. Nur sind sie heute schön bunt angemalt. Sonst hat sich nicht viel verändert.
Vor knapp 30 Jahren wurden Sie gefragt, ob Sie schon mal in London gewesen seien. Sie verneinten und meinten, das hätten Sie gar nicht nötig...

Dietrich: Das sehe ich immer noch so. London war für die Nasal Boys nicht das alles entscheidende Bezugssystem. The Ramones waren für uns mindestens so wichtig. Punk fand für mich in drei Ländern statt: England, Amerika, Schweiz.

In dem Booklet zu Ihrem Album begeben Sie sich auf eine Zeitreise. Was erleben Sie da genau?

Dietrich: Die Sache ist etwas kompliziert. Zusammengefasst geht es darum, dass ich wie in einem Trancezustand sämtliche Stationen meiner Musikerkarriere nochmals durchlebe. Also von den Nasal Boys zu No CBS bis hin zu «Kraft durch Freude» und Mutterfreuden.

Weshalb wollen Sie die alten Songs nochmals veröffentlichen?

Dietrich: Ich war am Anfang eher skeptisch und dachte, das sei doch kalter Kaffee. Als ich für Lurker Grand an dem Buch mitarbeitete, merkte ich, wie viel mir diese Musik zurückgibt. Wobei sie mir auch einiges abverlangt. Um die Songs nun live spielen zu können, musste ich fast schon ein Muskelaufbauprogramm absolvieren. Dabei habe ich über die Jahre hin, nie aufgehört, Gitarre zu spielen. Aber das spricht für die Energie der Songs.

Copyright by Martin Söhnlein. Der Artikel erschien am 29. September in der Aargauer/MittellandZeitung.

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