Montag, März 26, 2007

In the Cage




Das Doppelalbum “The Lamb Lies Down on Broadway” ist ein Meilenstein der Rockgeschichte. 1974 läutete es den Niedergang des Prog-Rock ein. Danach ging es mit Genesis steil bergab.

Keep your finger out of my eye. Ironischerweise war es ausgerechnet Rael, der dem umstrittenen Genre ein Ende bereiteten sollte. Der puertorikanische Obdachlose, der sich in den Strassen von New York herumtreibt, später in die Subway gerät, um dort allerlei Mystisches zu erleben, verkörpert nichts weniger als den damals neuen Vertreter des jugendlichen Aus- resp. Gar-nicht-erst- Einsteigertums: den Punk. Erfunden hat die Figur Peter Gabriel. Der damalige Sänger von Genesis trat nach einer kurzen Auszeit im Frühling 1974 vor seine Bandkollegen und präsentierte ihnen eine Geschichte, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte.

Die Begeisterung von Tony Banks und Mike Rutherford hielt sich vorerst in Grenzen. Die beiden Musiker versuchten ihren Frontmann von ihrer ursprünglichen Idee zu überzeugen, nämlich ein Konzeptalbum rund um Saint-Exupérys “Der kleine Prinz“ aufzunehmen - Gabriel sei Dank vergeblich. Und so fanden sich Genesis, deren Mitglieder zum grössten Teil aus der vornehmen englischen Gesellschaft stammen, im rattenverseuchten Headly Grange bei Guilford wieder. „Peter hatte seinen eigenen Raum mit einem Konzertflügel und Stapeln voller leerer Blätter“, erinnerte sich Phil Collins später. „Der Rest von uns quälte sich durch nicht enden wollende Jams. Geradezu unheimlich war der Tag, an dem wir „The Waiting Room“ komponierten: Wir schalteten die Lichter aus und improvisierten mit den fiesesten Geräuschen, die man sich nur vorstellen kann.“

Aber sprechen wir von denselben Genesis? Die Band hatte bis dahin fünf respektable, wenn auch etwas angestaubte Studioalben veröffentlicht. Der Romantizismus mit gelegentlichen Hardrock-Anleihen („The Knife“) stiess bei einem zumeist akademischen Klientel auf wachsenden Zuspruch - richtig gross waren Genesis aber 1974 noch nicht. Gerühmt wurden sie vor allem für ihre Liveshows. Ihr Frontmann blühte auf der Bühne buchstäblich auf; mit seinen wahnwitzigen Kostümen und einer beispielslosen Theatralik war er die Antipode zur Restband, die sich - wie auch das Publikum - sitzend, langhaarig und brillentragend gerne vom Erzengel Gabriel verführen liess. Für ausufernde Klangexperimente im Dunkeln waren Genesis hingegen weniger bekannt.

„The Lamb Lies Down on Broadway“ markierte tatsächlich einen Wendepunkt. Die Band machte sich auf nach neuen Ufern, sprich: nach Amerika. Dort war der britische Art Rock zeitverzögert angekommen; und dort waren auch die grösseren Hallen. Mit einer opulenten Rockoper, einem multivisuellen Spektakel und einem modernisierten Sound sollte nun der grösste Musikmarkt der Welt erobert werden. Dazu musste das ambitiöse Projekt allerdings erst fertig gestellt werden: „Wir waren extrem in Eile“, so Collins weiter. „Die Aufnahmen fanden auf einer Farm irgendwo in Wales statt. Wir spielten in einer Scheune und das mobile Aufnahmestudio stand vor dem Schweinestall.“ Mit mehr Material als Zeit landete das Quintett schliesslich in den Island Basing Street Studios (heute Sarm West) in London. “Wir hetzten, um die Stücke zu vollenden, damit wir alles auf Band haben, um rechtzeitig nach Amerika zu kommen und das Doppelalbum einem verdutzten Publikum vorzustellen.”

Kein Wunder waren nicht alle mit dem Resultat zufrieden. Tony Banks beispielsweise bemängelte den Umstand, dass Gabriel erst später zu den Sessions gestossen war. Der Keyboarder hatte weite Teile der Stücke instrumental konzipiert, aber "Peter stand einfach vors Mikrofon und sang überall drüber.” Der introvertierte Steve Hackett hätte gerne mehr von seinem exquisiten Gitarrenspiel gehört und Bassist Rutherford schien immer noch dem kleinen Prinzen nachzutrauern. Phil Collins seinerseits räumte unlängst ein, keinen Schimmer gehabt zu haben ,“wovon zum Teufel Peter eigentlich sang.”

Der Meister selbst weigert sich bis heute, verbindliche Statements zu “The Lamb” abzugeben. “Ich hatte damals das Gefühl, eine etwas zeitgemässere Figur entwickeln zu müssen. Genesis waren drauf und dran, sich in eine Supergroup zu verwandeln - dazu passten diese Märchen- und Fantasiefiguren nicht mehr. Ich wollte nicht mit der Titanic untergehen...”

Und so folgen wir also über 92 Minuten dem lederbejackten Rael, wie er dem amerikanischen Alltag mit seinen Ikonen (Howard Hughes, Groucho Marx, Lenny Bruce, Evel Knievel) und Schweinereien (Klu Klux Klan) entflieht und hinabsteigt in die Unterwelt, wo er auf seltsame Kreaturen wie den Slipperman oder die blutrünstge Lamia trifft, immer auf der Suche nach seinem Bruder John, den er wohl - ganz am Ende - in sich selbst findet. Mit “It’s only rock’n’roll, but I like it” reicht Gabriel im Fade-out des letzten Stückes dem Zuhöhrer dann doch noch eine Bedienungsanleitung; eine weitere liegt dem Album in Form eines etwas länglichen Textes bei.

Was immer die Lyrics bedeuten mögen: in den insgesamt 23 Kompositionen finden sie ihre musikalische Entsprechung. Glänzendes Pianogeperle im Titelstück, waghalsige Synthesizer-Arpeggios in “In the Cage” oder “Riding the Scree”, betörendes Gitarrenspiel in “Hairless Heart” und darüber eine Stimme, der man eben doch ein bisschen mehr abnimmt, als derjenigen des späteren Sängers und Teilzeit-Antichristen Phil Collins. Letzterer macht auf “The Lamb Lies Down on Broadway”, was er am besten kann: Schier unspielbare Rhythmen mit einer unglaublichen Präzision und Lässigkeit zu trommeln; Jazz-Rock ohne Jazz sozusagen.

Den Weg auf einen Kuschelrock-Sampler hat lediglich "The Carpet Crawlers" gefunden. Der Rest ist knochentrockener Prog-Rock ("Back in N.Y.C.", "Lilywhite Lilith") oder super-merkwürdige Popmusik mit ebenso merkwürdigen Titeln ("Cuckoo Cocoon", "Here Comes the Supernatural Anaesthetist"). Eine eindeutige Handschrift, nämlich die von Tony Banks, ist lediglich bei "The Lamia" auszumachen, der Rest ist ineinander gewobenes Patchwork der inspirierteren Sorte. "Nachträglich gesehen war es eine tolle Zeit", lässt sich Mike Rutherford zitieren. "Bei "Selling England By the Pound" stiessen wir an unsere Grenzen. Doch jetzt schienen alle vor Einfälle nur so zu sprühen."

Klanglich hebt sich “The Lamb” deutlich vor seinen Vorgängern ab. Hell, klar und hart hat John Burns den Genesis-Sound von 1974 produziert. Die Synthesizer- und Mellotronklänge von Tony Banks sind längst Klassiker, die harrschen Gitarrensounds indes immer noch Geschmacksache. Die Partizipation von Brian Eno kam man in Stücken wie “Empty Sorrows in Empty Boats” bestenfalls erahnen - vielleicht bietet ja die bald erhältliche SACD in Dolby 5.1. Erhellendes, entsprechendes Equipment vorausgesetzt.

Noch während der Tour zu “The Lamb Lies Down on Broadway” verliess Gabriel die Band. War ursprünglich geplant, “The Lamb” aufwändig zu verfilmen, existiert heute kaum mehr brauchbares Filmmaterial der Konzerte. Zeitgenossen geraten heute noch ob der legendären Diashow (!) ins Schwärmen, spätere Hardcore-Fans fiebern dem Augenblick entgegen, in dem Gabriel endlich die Zeit findet, mit seinen Ex-Kollegen auf Tour zu gehen. Ob es allerdings ein Vergnügen ist, einem gealterten und fast kahlköpfigen Rael bei transzentalen Turnübungen zuzusehen, darf bezweifelt werden. Mit der von Genesis lizenzierten Coverband The Musical Box, die die “Lamb”-Show Ton für Ton nachspielt, ist man da womöglich besser bedient.

Nach dem Austritt des Leadsängers übernahm bekanntlich Phil Collins die Rolle des Frontmanns und Genesis wandten sich wieder vermehrt dem Neo-Romantischen zu. Bis zu “Invisble Touch” war darunter nichts, wofür sie in der Hölle schmoren müssten, doch die grosse Zeit des Prog-Rock war nach 1975 definitiv vorbei. Punk befreite die Siebzigerjahre von musikalischem Ballast und bereitete dem durchwachsenen Jahrzehnt ein vorzeitiges Ende.

Vergleicht man “The Lamb” mit dem letzten grossen Konzeptalbum der Siebzigerjahre, Pink Floyds “The Wall”, so wirkt Ersteres verspielter, eine Spur weniger pathetisch, roher, elastischer und vor allem unverbrauchter. Kritiker werfen dem Werk vor, an einer ähnlichen Krankheit zu leiden wie das “White Album” der Beatles: zu unausgegoren, zu viele mittelmässige Songs. Und genau zwischen dem “White Album” und “The Wall” gehört “The Lamb Lies Down on Broadway” eingereiht. Zeitlich - und auch ein bisschen musikalisch.

Genesis "The Lamb Lies Down on Broadway" (EMI) 5.1 SACD Surround Sound inkl. neuem Stereo-Mix erscheint am 18. April. Genesis live(ohne Peter Gabriel): Stade de Suisse, Bern (Sitzplätze ausverkauft).

Copyright by Martin Söhnlein 2007

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